Vortrag

Die Türkei – aktuelle Entwicklung

Der Referent des heutigen Abends, Dr. Bernd Liedtke stellte sich zunächst vor. Im Polizeidienst sei er 44 Jahre in der „öffentlichen Badewanne“ wohlversorgt geschwommen. Als stellvertr. Polizeipräsident in Hagen war er u.a. mit Migrantenfragen befasst. Seine erste Jugendliebe war Türkin und brachte ihm somit schon früh das Thema „Türkei“ nahe.
Mit 44 Jahren nahm Dr. Liedtke das Studium der Politologie an der FU Hagen auf, schloss als Dipl. Magister ab und promovierte über das Thema Türkei. Heute ist Dr. Liedtke, der sich als Experte für Kultur, Politik und Kunstgeschichte bezeichnet, mit vier weiteren türkischstämmigen Frauen freiberuflich tätig und hält mit ihnen Vorträge über den Islam im praktischen Alltag.

Der Vortragende verwies auf die lang bestehende enge Verbindung der Deutschen und Türken, die zu Zeiten des Osmanischen Reiches im 11. Jahrhundert begann. Heute leben ca. 2,9 Millionen Menschen türkischer Herkunft in Deutschland, von denen etwa 700.000 die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, in NRW leben 1,4 Millionen Türken.
Die an sich homogene deutsche Gesellschaft tut sich teilweise schwer damit, Menschen anzunehmen, die nicht ihrem Idealbild eines Deutschen entspricht. Demnach ist deutsch wer akzentfrei die deutsche Sprache spricht, 38% sagen wer ein Kopftuch trägt, kann kein Deutscher sein, 40% wollen keine Moscheen hier haben, 67% wissen nichts über Koran/Islam.

87% der Türkischstämmigen wollen zu Deutschland gehören, hingegen fühlt sich jeder Zweite als Bürger II. Klasse. In der Türkei werden sie bei Besuchen als Deutsche angesehen, in Deutschland sind sie Türken und somit fühlen sie sich irgendwie heimatlos.
60% der Türkischstämmigen sind hier im Dienstleistungsgewerbe tätig, nur 6% sind selbständig, zum Vergleich 12 % Deutsche sind selbständig.

Kemal Atatürk, der Begründer der Türkei 1923, die aus den Trümmern des Osmanischen Reiches entstand, vollzog seinerzeit einen kulturpolitischen Wandel der Türkei, die er in einen säkularisierten Staat führte und sich gen Westen öffnete. Heute hingegen führt ein geänderter Weg der Türkei in die Rückständigkeit.

Politische Nachfolger und enge Weggefährten waren Gülen und Erdogan zunächst. Ein erbitterter Streit über die zukünftige Entwicklung und die Auslegung des Islams führte 2013 zu einer Trennung und gipfelte einerseits in der Schließung von Nachhilfezentren durch Erdogan (die Gülen mit Profit betrieb) und andererseits folgte daraufhin die Veröffentlichung von Korruptionsvorkommen des Erdogan-Clans durch die Gülenbewegung. Gülen lebt heute in Pennsylvania. Es wird von Experten angezweifelt, dass er hinter dem Putschversuch im Juli 2016 steckt, wie es von Erdogan behauptet wird. Trotzdem sei Gülen nicht positiv zu sehen.

Die Türken empfinden das politische System und insbesondere Erdogan als gut. Merkel hingegen wird nicht akzeptiert, da sie zu monokausal sei.

Die Türken wünschen sich einen starken Führer. Erdogan gibt den Türken Anerkennung, er sorgte für materiellen Aufschwung und die Partei Edogans – die AKP- ermuntert zur Aufgabe des Säkularismus zugunsten der öffentlichen Durchsetzung des Islam.
Erdogan will mit seinem Referendum am 16.04.2017 als dann gewählter Staatspräsident eine islamische „Demokratie“ einrichten. Er wird gleichzeitig Staatspräsident und Vorsitzender seiner Partei AKP sein. Es entsteht ein Loyalitätsproblem, da Erdogan fortan das Parlament (Legislative) mit seinen 600 Abgeordneten lenkt. Es werden Personen auf die Liste gesetzt, die ihm genehm sind. Die Exekutive (Regierung als vollziehende Gewalt) gibt es zukünftig nicht mehr. Durch die Einsetzung von 5 der höchsten Richter hat er zudem einen begrenzten Einfluss auf die Judikative.

Zwei Wahlperioden (bis 2029) kann Erdogan Staatspräsident sein. Wissenschaftler wie kritische Stimmen verlassen das Land. Neben all den bereits heute aus den Jobs Vertriebenen und in Gefängnisse Geworfenen: Wie soll das Land dann noch prosperieren?
Nachdem Yildrim kürzlich seinen Auftritt in Oberhausen als Werbetrommler für Erdogan absolviert hat, fragte der Journalist Prantl von der Süddeutschen Zeitung: „Wo ist der deutsche Rechtsstaat? Man sollte derartige politische Auftritte in Deutschland nicht erlauben, die Türkischstämmigen in Deutschland in Ruhe lassen, da sie nicht in der Türkei spätere Folgen ausbaden müssen“.